Katharine Mehrling: Meine Geschichte mit Piaf
Ich habe sie immer noch, die Kassette. Darauf steht handgeschrieben ein Name: EDITH PIAF. Sie war ein Geschenk meiner ersten großen Liebe, Jérôme.
Als ich anfing, Musical und Schauspiel zu studieren, begleitete mich die Kassette nach London, und alles, was mich dort wirklich interessierte, war die PIAF. Denn ich war infiziert, fasziniert, berauscht, im Innersten berührt von ihrer schonungslosen Emotionalität.
So kann man singen, nein so MUSS man singen, wenn man eine Welt in sich trägt voller Sehnsüchte und Abgründe, voller Lebensfreude und Melancholie. Das lernt man auf keiner Schule, auch nicht in London.
Also, ging ich nach Paris, um sie zu suchen: diese Stimme, dieses Lebensgefühl, das gewisse „Savoir-vivre“. Das Freiheitsgefühl der Straßenmusik in den 30ern, das besetzte Paris der 40er, den wilden Jazz der 50er, das bohème Paris der 60er – im Film Noir Stil…
Natürlich fand ich es nicht! Doch ich entdeckte das kleine Paris in mir.
Nachts arbeitete ich als singende Kellnerin in einer Bar im 2. Arrondissement. In der Morgendämmerung fuhr ich mit dem Fahrrad in mein kleines Appartement am Montmartre und zählte im Bett meine Francs, mein wirklich hart verdientes Geld, das noch übrig blieb nach den vielen zerbrochenen Gläsern. Nachmittags begab ich mich auf die Spuren der Piaf.
Ich ging ihre Straßen entlang, sprach mit Leuten, die sie gekannt hatten, las alles über sie, was ich in die Finger kriegen konnte, und in meiner Fantasie reiste ich durch die Zeit
…Midnight in Paris….
Das Paris der 90er war nicht ganz so romantisch wie in meiner Vorstellung und die Pariser nicht ganz so charmant, aber ich lernte die Leichtigkeit des Seins, die Kunst des Genießens: Rotwein, Käse, Baguette, Café Crème, Crème Brûlée, Fruits de Mer, … la cuisine Française et la joie de vivre.
Zurück in Deutschland überzeugte ich einen Regisseur, mich die Piaf in einem Schauspiel mit Musik spielen zu lassen. Das war 1998 am Staatstheater Kassel. Eigentlich zu jung für diese selbstzerstörerische Figur, aber die künstlerische Identifikation war so stark – alles in mir sehnte sich danach, diese Rolle zu verkörpern. Es wurde ein großer Erfolg und für mich jeden Abend eine Reise in ungeahnte Tiefen, die mich Tage danach noch verfolgten.
Ich spielte die Piaf in Bielefeld, Berlin und tja, auch beinah im Pariser Olympia, aber das ist eine andere Geschichte.
Die Piaf hat mich inspiriert, meine eigenen Lieder zu schreiben, aus mir selbst zu schöpfen, meine Persönlichkeit blühen zu lassen in all ihrer komplexen Ambivalenz, meinen Weg und meine Umwege zu gehen.
Sie lehrte mich, diesen Beruf zu leben, ihn zu fühlen, ihn nicht als Job zu betrachten, sondern mich als Reisende, als Suchende nach der Wahrhaftigkeit zu verstehen und genau das zu teilen.
„Piaf au Bar“ ist meine ganz persönliche Liebeserklärung, eine Symbiose aus meiner Liebe zum Jazz und meiner ungebrochenen Leidenschaft für die Piaf.
© Katharine Mehrling 2020